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Dieses Thema hat 21 Antworten
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 Fantasieland
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etoilee Offline

Sternschnuppe


Beiträge: 934

11.06.2002 07:21
Es war einmal ..... Antworten

'Das Märchen von der traurigen Traurigkeit'


Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?"
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, daß sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.
"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.
"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"
"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, daß du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"
"Ich... ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. "Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, daß mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter den Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest."
Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muß sich nur zusammenreißen. Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."
"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet."
Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut.
Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zuläßt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, daß ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu." Die Traurigkeit schwieg.
Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt.
Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber... aber- wer bist eigentlich du?"
"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen.
"Ich bin die Hoffnung."


etoilee

etoilee Offline

Sternschnuppe


Beiträge: 934

11.06.2002 07:29
#2 RE:Es war einmal ..... Antworten

Die vier Kerzen


Vier Kerzen brannten, so still.
Dass man hörte wie sie zu reden begannen.

Die erste Kerze seufzte und sagte:
“ Ich heiße Frieden.
Mein Licht leuchtet, aber die Menschen halten keinen Frieden. “

Ihr Licht wurde immer kleiner und erlosch schließlich ganz.


Die zweite Kerze flackerte und sagte:
“ Ich heiße Glauben.
Aber ich bin überflüssig. Dir Menschen wollen von Gott nichts wissen. Es hat keinen Sinn mehr, dass ich brenne .“

Ein Luftzug weht durch den Raum, und die zweite Kerze war aus.


Leise und traurig meldet sich nun die dritte Kerze zu Wort.
“ Ich heiße Liebe.
Ich habe keine Kraft mehr zu brennen.
Die Menschen stellen mich an die Seite. Sie sehen nur sich selbst und nicht die anderen, die sie lieb haben sollen .“

Und mit einem letzten Aufflackern war auch dieses Licht ausgelöscht.


Dann kam ein Kind in das Zimmer.
Es schaute die Kerzen an und sagte: „ Aber, aber, Ihr sollt doch brennen und nicht aus sein ! “
Und fast fing es an zu weinen.


Da meldete sich auch die vierte Kerze zu Wort.
Sie sagte: “Hab keine Angst ! Solange ich brenne ,können wir auch die anderen Kerzen wieder anzünden.
Ich heiße Hoffnung .“

Mit einem Streichholz nahm das Kind Licht von dieser Kerze und zündete die anderen Lichter wieder an.


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11.06.2002 12:06
#3 RE:Es war einmal ..... Antworten

Das seit dem 15. Jahrhundert bezeugte Wort "Märchen" ist eine Verkleinerungsbildung zu dem heute veralteten Nomen "Mär" oder "Märe". Bis ins 19. Jahrhundert war "Märchen" in der Bedeutung von "Nachricht", "Kunde", "kleine Erzählung", aber auch im Sinne von "Gerücht" gebräuchlich. Abgeleitet ist das Wort wohl von dem mittelhochdeutschen Verb "mæren" , bzw. dem althochdeutschen Verb "maren" (= verkünden, rühmen). Schon im germanischen Sprachgebrauch findet man das Adjektiv "mar" in der Bedeutung von "groß", "bedeutend", "berühmt".

Der eigentliche Ursprung des Märchens liegt aber viel weiter zurück, nämlich im Orient. Von dort gelangt es schon lange vor den Kreuzzügen ins Abendland. In der Antike ( z. B. bei HOMER und PLATON) und auch im Mittelalter (z.B. in der Kaiserchronik) stellt das Märchen noch keine selbständige Gattung dar, sondern ist Bestandteil anderer epischer Dichtungen. Sogar in der germanischen Heldensage lassen märchenhafte Bestandteile schon auf ein sehr frühes Vorhandensein der Ur-Märchen in unserem Sprachraum schließen.

Aus dem keltischen Erbe strömt Märchengut nach England, Schottland und Irland. Sehr reich entfaltet ist das Märchengut bei allen Slawen. Die ersten deutschen Sammlungen an Märchen stammen von BRENTANO (1805) und insbesondere von den Brüdern GRIMM (1812-1815). Seither gibt es viele weitere Märchensammlungen und -aufzeichnungen, besonders in den Alpenländern. Während sich hier deutsche, romanische und slawische Überlieferungen mischen, ist das skandinavische Märchen dem deutschen sehr verwandt.

Schon J. GRIMM verweist auf Motivzusammenhänge zum germanischen Heldenepos, zur Tierfabel und zum romanischen Märchen.
Seit HERDER entwickelt sich eine eigene literaturwissenschaftliche Theorie des Märchens. Es wurden seither zahlreiche vergleichende Untersuchungen der Märchen aller Länder und Erdteile durchgeführt, ausgebreitete Märchenwanderungen nachgewiesen und vielfältige anthropologische und mythologische Deutungen vorgelegt.


etoilee

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Sternschnuppe


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11.06.2002 12:07
#4 RE:Es war einmal ..... Antworten


Unter einem Volksmärchen versteht man dank genauer Definition der Literaturwissenschaft eine kürzere volksläufig-unterhaltsame Prosaerzählung von phantastisch-wundersamen Begebenheiten ohne zeitliche und räumliche Festlegung. Dabei ist die Hauptfigur des Märchens stets so gezeichnet, dass sie zur Identifikation anregt.
Typisch sind
* das Eingreifen übernatürlicher Gewalten ins Alltagsleben
* redende und Menschengestalt annehmende Tiere
* Tier- oder Pflanzengestalt annehmende verwunschene Menschen
* Hexen, Zauberer, Feen, Zwerge, Riesen, Drachen u. ä.
* Bestrafung des Bösen - Belohnung des Guten (Happy End)
* einfache Form - eindimensionales Erzählen.

Das Volksmärchen ist aus dem Erzählen des Volkes hervorgegangen und hat den Zusammenhang mit der Erzählweise des Volkes nicht verloren. Es ist daher auch Gegenstand der Volkskunde. In der Erzählweise wird die ganze Welt eingefangen: alles in ihr ist an seinem Platz. Das Volksmärchen ist auf einfache, naive Weise eine erzählerische, in sich geschlossene Bewältigung der Welt.


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Sternschnuppe


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11.06.2002 12:09
#5 RE:Es war einmal ..... Antworten

Neben dem reinen Volksmärchen entwickelte sich das Kunstmärchen.

Das Kunstmärchen geht ebenfalls auf die im höfischen Epos, Tierepos und Volksbüchern des Mittelalters verarbeiteten Motive zurück. Es ist bewußte Kunstschöpfung eines Dichters, der wohl die Erzähltechnik und die Motive des Volksmärchens übernimmt, sein Werk aber mit voller Absicht dichterisch gestaltet. Im französischen Rokoko beginnt das Kunstmärchen, sich als witzige, ironische, satirische Kunstform zu verselbständigen und in Vers oder Prosa zur geistreichen Unterhaltung der aufgeklärten Gesellschaft beizutragen.
Noch TIECKs frühe Märchen sind satirisch - auf der Höhe der Romantik erfolgt der Umschlag zum Märchen als ´bewußte Poetisierung der Welt` mit Durchbrechung der Wirklichkeit, Erfahrung und Kausalität sowie der Loslösung von Zeit und Raum :
GOETHE, FOUQUÉ, CHAMISSO, später auch HAUFF.
Doch spielen in diese (im Grunde immer noch volkstümlichen) Formen dann auch philosophische (NOVALIS) und dämonische Elemente (E.T.A. HOFFMANN) mit hinein und belasten somit die Form des Märchens durch Symbolik und subjektive Problematik.

Im Realismus treten dann auch MÖRIKE, RAIMUND, KELLER, STORM, O. LUDWIG und Marie von EBNER-ESCHENBACH als Märchendichter hervor.



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Sternschnuppe


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11.06.2002 12:11
#6 RE:Es war einmal ..... Antworten

Zum Vorbild für moderne Märchendichtung wird der dänische Dichter Hans Christian ANDERSEN (1847 und 1876) in seiner typischen Verbindung von Realistik und behäbigem Humor. Im 19. Jahrhundert werden dann noch zahlreiche Märchen der Weltliteratur (z. B. auch japanische) ins Deutsche übersetzt.
Nicht nur durch das herkömmliche Märchenbuch, sondern auch durch die modernen Medien (Hörspielkassetten, Radio, Fernsehen, Kinoverfilmungen und sogar Computersoftware, die wahlweise mit weiblicher oder männlicher Stimme die Texte, z. B. die nachfolgenden, vorliest) finden Märchen gerade heutzutage eine noch nie dagewesene Verbreitungsvielfalt. Kinder brauchen Märchen und lieben es, sich mit ihnen zu beschäftigen. So ergibt sich die Bedeutung der Gattung einerseits aus der Funktion des Märchens für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung und andererseits aus ihrer Rolle im Prozess der literarischen Sozialisation. Glaubt man der Entwicklungspsychologie, dann ist der Wert des Märchens für die kindliche Entwicklung auch am Ende des 20. Jahrhunderts ungebrochen.


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Sternschnuppe


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11.06.2002 12:18
#7 RE:Es war einmal ..... Antworten



Die Märchen zählen zum Kulturgut der gesamten Menschheit.
Sie begleiten uns ein Leben lang, von der Kindheit angefangen bis hin zum spaeten Erwachsenenalter.
Immer wieder erinnern wir uns an ganz bestimmte Gestalten und Szenen in ganz bestimmten Märchen.
Aber warum ist das so? Und warum sind die Märchen auf der ganzen Welt verbreitet?
Warum erzaehlen sie immer wieder von aehnlichen Begebenheiten?
Warum ueben die Märchen eine solche Faszination aus?


etoilee



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Sternschnuppe


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11.06.2002 12:22
#8 RE:Es war einmal ..... Antworten

Ja, was sind denn Märchen ueberhaupt?

1. Märchen sind eine Abfolge erzählter sogenannter archetypischer Bilder.
Das sind innere Bilder, die jeder Mensch im Innersten mit sich traegt und denen er eine ganz bestimmte Bedeutung beimißt.
Als solche kann man z.B. die Begriffe “Wald”, “König”, “Königin” oder aber auch “Hexe”, “Zauberin”, “Fluß”, “See” usw. einordnen. Oder aber die Begriffe “Tag” und “Nacht”.
Das Märchen selbst wird, damit der Zuhörer die Möglichkeit hat, in diese inneren Welten einzutauchen, in einer bestimmten Art und Weise erzählt.

Es beginnt in aller Regel mit: “Es war einmal vor langer, langer Zeit...”
Niemals wird eine bestimmte Anzahl von Tagen oder Dingen benannt.
Es heißt immer “viele Tage” oder “nach langer Zeit” usw.
Auch die Schönheit der Prinzessin z.B. wird niemals genau beschrieben, so daß sie sich der Zuhörer immer so vorstellen kann, wie er die schöne Prinzessin sieht.
Wird doch einmal eine Person beschrieben, so hat das einen symbolischen Wert, wie z.B. “so schwarz wie Ebenholz, so rot wie Blut, so weiß wie...”
Im Märchen gibt es immer eine ganz genaue Abfolge: der Held, die Heldin wird vorgestellt, er/sie trennt sich vom Bisherigen, geht in die Welt hinaus, erlebt etwas, lernt dazu, wird klüger und weiser und bringt am Ende diese Entwicklung zu einem positiven Abschluß.
Was auch das Ziel jeder Entwicklung jedes Wesens im Ursprung ist.
Das Böse, das Problem, die Schwierigkeit, der Stolperstein wird “bestraft”, in dem Sinne, daß es nun ueberwunden ist, als solches nicht mehr vorkommt und keinen Schaden mehr anrichten kann.


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Sternschnuppe


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11.06.2002 12:28
#9 RE:Es war einmal ..... Antworten

Aber natürlich gibt es auch andere Erklaerungsversuche dafuer was ein Märchen ist.
2. Ebenso sagt man nämlich, daß alles im Märchen Wirklichkeit ist, denn das Märchen ist uralt und somit kann man davon ausgehen, daß es sowohl Riesen ( siehe Kontinent Atlantis), als auch Zwerge gegeben haben koennte. Ebenso wie Drachen als Wesen existiert haben koennten und womöglich mehr sind als eine alte Erinnerung an die Dinosaurier.



3. Auch gibt es die Theorie, die sich an die Ideen des Schriftstellers Erich von Daeniken anlehnt und von einer früheren außerirdischen Population auf der Erde spricht, als Erklärung fuer besonders gestaltete Wesen oder besondere Möglichkeiten der Fortbewegung.


etoilee

etoilee Offline

Sternschnuppe


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11.06.2002 12:30
#10 RE:Es war einmal ..... Antworten


4.Eine weitere Theorie, die sich an den Glauben der keltischen Druiden anlehnt und die mir sehr interessant erscheint, ist folgende: Man geht davon aus, daß das Märchen eine göttliche Lehrgeschichte darstellt.
Der Held, die Heldin besitzt nicht eine Seele, sondern ist die Seele selbst.
Ein Funke der Schöpferkraft, welche am Ende des Märchens durch verschiedene Initiationen gegangen ist und zu einer Art Vollkommenheit, zu einem Königtum gelangt ist.
Bei den keltischen Druiden war das Märchenerzaehlen Bestandteil der zwanzigjaehrigen priesterlichen Ausbildung.
Auch glaubten sie an das, was wir heute Reinkarnation nennen.


Dies sind nur einige Theorien darüber, was das Märchen sein kann.

Aber lauschen wir den Märchen und lassen uns verzaubern, was immer sie auch bedeuten mögen.


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etoilee

etoilee Offline

Sternschnuppe


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11.06.2002 12:46
#11 RE:Es war einmal ..... Antworten

Dieses Märchen mag ich sehr. Es weckt viele Erinnerungen in mir auf.



Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Es war der letzte Tag im Jahre, und die Dunkelheit brach bereits herein. Es schneite und war grimmig kalt. In dieser Kälte und Finsternis ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopfe und nackten Füßen. Als sie von zu Hause wegging, hatte sie wohl Pantoffeln angehabt; es waren sehr große Pantoffeln gewesen, die früher ihre Mutter getragen hatte. Das kleine Mädchen hatte sie verloren, als sie schnell über die Straße lief, um nicht von einer Kutsche überfahren zu werden.
Da ging sie nun auf den kleinen nackten Füßen, die vor Kälte ganz rot und blau waren. In einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer und einen Bund hatte sie in der Hand. Heute hatte ihr noch niemand etwas abgekauft, niemand ihr ein Almosen geschenkt. Sie war schon ganz verzagt; zitternd vor Kälte und Hunger schlich sie dahin. Die Schneeflocken fielen auf ihr langes blondes Haar, das in lockigen Wellen auf ihren Hals herab floss.
Aber daran dachte sie nun freilich nicht. Aus allen Fenstern glänzten die Lichter, und es roch ganz herrlich nach Gänsebraten, es war ja Silvesterabend. Und daran dachte sie.
In einem Winkel, den zwei Häuser bildeten, von denen das eine etwas in die Straße vorsprang, kauerte sie sich nieder. Sie fror sehr, getraute sich aber nicht, nach Hause zu gehen, weil sie noch nicht für einen Pfennig Streichhölzer verkauft hatte. Sie hätte gewiss von ihrem Vater Schläge bekommen, und kalt war es ja zu Hause auch, denn sie wohnten dicht unter dem Dache, und da pfiff der Wind überall herein. Sie fror entsetzlich! Ob sie wohl wagen durfte, ein Schwefelhölzchen anzuzünden und sich die erstarrten Händchen daran zu wärmen? Sie zog eins heraus und zündete es, ritsch! an. Hell flammte und sprühte es auf! 0 wie schön warm war die kleine Flamme! Die Kleine glaubte, am warmen Ofen zu sitzen, und streckte ihre Füßchen aus, um auch diese zu wärmen. Da erlosch die Flamme, der Ofen war verschwunden, und sie saß da mit dem abgebrannten Endchen des Schwefelholzes in der Hand.

Sie zündete ein neues an; es leuchtete auf, und die Stelle der Mauer, worauf der Schein fiel, wurde durchsichtig wie ein Schleier. Die Kleine konnte gerade in eine Stube hineinsehen, wo ein festlich gedeckter Tisch stand, und drauf ein herrlich duftender Gänsebraten mit Äpfeln und getrockneten Pflaumen gefüllt. Und o Wunder, die Gans sprang aus der Schüssel herunter und watschelte gerade auf das kleine Mädchen zu! Da ging das Streichholz aus und nur die kalte Mauer war noch zu sehen. Sie zündete noch ein Hölzchen an. Da saß sie unter einem großen, herrlich geschmückten Weihnachtsbaum. Tausende von Lichtern brannten auf den grünen Zweigen, und bunte Bilder, wie sie sie in den Schaufenstern bewundert hatte, sahen auf sie hernieder. Die Kleine streckte beide Händchen danach aus — da erlosch das Schwefelholz, die vielen Weihnachtslichter stiegen höher, immer höher, und sie sah sie jetzt als Sterne am Himmel.

Einer davon fiel herab und bildete einen langen Feuerstreifen am Himmel. „Jetzt stirbt jemand!" dachte die Kleine, denn sie hatte von ihrer guten alten Großmutter, die längst tot war, gehört, dass jedes Mal, wenn ein Stern herunterfällt, eine Seele zu Gott emporsteigt. Wieder entzündete sie ein Hölzchen an der Mauer, und in seinem Glänze sah sie die alte Großmutter, welche mild und liebevoll vor ihr stand. „Liebe Großmutter!" rief die Kleine, „Nimm mich mit! Ich weiß, dass du verschwindest, wenn das Schwefelhölzchen erlischt, wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der prächtige Weihnachtsbaum!"
Und in eilender Hast strich sie ein Streichhölzchen nach dem ändern an, um die Großmutter festzuhalten. Die Großmutter war früher nie so schön, so groß gewesen; sie nahm das kleine Mädchen auf ihre Arme, und beide flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch. Und dort oben war weder Kälte, noch Hunger, noch Angst — sie waren bei Gott!
Aber als der Morgen hereinbrach, fanden die Leute im Winkel zwischen den Häusern ein kleines Mädchen mit roten Wangen und einem Lächeln auf den Lippen, tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Um sie herum lagen die abgebrannten Schwefelhölzchen. „Sie hat sich wärmen wollen", sagten die Leute; sie wussten nicht, was sie Schönes gesehen hatte und wie sie mit ihrer alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.


etoilee

etoilee Offline

Sternschnuppe


Beiträge: 934

11.06.2002 12:49
#12 RE:Es war einmal ..... Antworten

Kleine
Märchenkunde

Diese Geschichte schrieb Hans-Christian Andersen, nachdem er einen Holzschnitt mit einem armen Kind, das auf der Straße Streichhölzer feilbietet, gesehen hatte.

Der Herausgeber eines Volkskalenders hatte Andersen drei Holzschnitte übersandt und ihn gebeten, über einen davon eine Erzählung zu schreiben.

Er wählte den vom Streichholzmädchen. Das ist, soweit bekannt, das einzige Mal, dass Andersen sich von einem Bild zu einer Geschichte anregen ließ.

Es wurde eine traurige Geschichte, trotz der heiteren Auflösung am Ende.

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern passt in die Weihnachtszeit, um Menschen daran zu
erinnern, dass es draußen, außerhalb unserer warmen, geschmückten, geschenkebeladenen
Stuben, Menschen gibt, die nicht einmal das Notwendigste zum Überleben haben.


etoilee

etoilee Offline

Sternschnuppe


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11.06.2002 13:44
#13 RE:Es war einmal ..... Antworten



Ich denke, Märchen - lesen, träumen, schauen... -
die Welt wieder mit Kinderaugen sehen,
an Oma denken,
das knistern des Kaminfeuer's hören... -
einfach einmal diese Welt für ein - zwei Augenblicke verlassen und versinken in die Unendlichkeit der Welt der Träume:
In die Welt der Märchen.

Und wenn sie nicht gestorben sind,...
... dann leben sie noch heute.

So haben wir den Ausgang fast aller Märchen aus unserer Kindheit in Erinnerung.

Ja, sie leben noch - und vor allem wieder, der verwunschene Prinz, die verzauberte Königstochter, die gütige Fee oder die böse Hexe und ich möchte in der rationalen Welt gerne die Phantasien, die Anteilnahme und die Gefühle, die beim Lesen und Vorlesen in uns geweckt wurden, wieder aufleben lassen und unseren Kindern weitervermitteln.


etoilee

etoilee Offline

Sternschnuppe


Beiträge: 934

11.06.2002 13:49
#14 RE:Es war einmal ..... Antworten



Als die Menschen noch kein Fernsehen hatten, kein Radio und keine Zeitungen, war die große Zeit der Erzähler. Sie genossen höchste Wertschätzung für ihre Kunst. In jenen Tagen hatten Märchen ihre hohe Zeit.
Auch und vor allem im Orient. Märchenerzähler traten auf dem Basar ebenso auf wie in den Sultanspalästen. Sie brachten Geschichten mit, die ihre Zuhörer verzauberten, erotische, witzige, weise und abenteuerliche - allerbeste Unterhaltung. Und wenn sich zwei Karawanen an der Wasserstelle in der Wüste trafen, wurden die neuesten Märchen und Geschichten ausgetauscht. Verbreiten taten sie sich dann wie von selbst. Erzähler griffen die Stoffe auf und verfeinerten sie. Später gelangten sie auch nach Europa, wo es auch eine lange Märchentradition gibt.


etoilee

rubita Offline

Tanzmaus


Beiträge: 171

19.06.2002 01:09
#15 RE:Es war einmal ..... Antworten
Hier nun eine traurige spanische Legende, die ich aber dennoch schön finde, vorallem die letzte Strophe:
(im Original von Mecano gesungen in spanisch)

Hijo de la Luna

Ein Narr, der nicht lauscht
Der Erzählung einer Legende
Wie eine Zigeunerin
Den Mond beschwor
Bis zur Morgendämmerung
Weinend flehte sie
Als der Tag kam
Um Heirat mit einem Andalusierer
Du wirst einen dunkelhäutigen Mann bekommen
Sprach vom Himmel der Vollmond
Doch dafür möchte ich deinen erstgeborenen Sohn
Den du ihm gebären wirst
Wer sein Kind opfert
Um nicht allein zu sein
Der liebt es nicht wirklich

Mond, du möchtest Mutter werden
Und findest nicht die Liebe
Die dich zur Frau macht
Sag mir Silbermond
Was hast du vor mit dem Kind von Haut?
Sohn des Mondes

Vom dunkelhäutigen Vater wurde ein Kind geboren
Weiss, wie der Rücken des Hermelin
Mit grauen Augen statt olivenfarbenen
Albinokind des Mondes
Zum Teufel damit
Dieses Kind ist von einem Bauertölpel
Und das läßt mir keine Ruhe

Mond, ...

Der Zigeuner
Fühlte sich entehrt
Und ging auf seine Frau mit dem Messer los
Von wem ist das Kind?
Du hast mich betrogen
Und er verletzte sie tödlich
Danach begab er sich auf den Berg
Mit dem Kind auf den Arm
Dort setzte er es aus

Mond, ...

Und wenn in den Nächten der Vollmond scheint
Wird es sein, weil es dem Kind gut geht
Und wenn das Kind weint
Wird der abnehmende Mond zur Sichel
Um ihm eine Wiege zu sein
Und wenn das Kind weint
Wird der abnehmende Mond zur Sichel
Um ihm eine Wiege zu sein

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